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Nr. 2 / 2024

Postwachstum. Im Gespräch mit Anne Weber

 

weiter denken: Sie forschen zu Postwachstumskonzepten und sozialökologischem Pfadwechsel. Was verbirgt sich hinter dem Schlagwort ‚Postwachstum‘ und wieso sollten diese Konzepte in der Philosophie stärker berücksichtigt werden?

Anne Weber: Postwachstumsansätze und -konzepte sind bisher hauptsächlich in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften diskutiert worden und lassen sich grundsätzlich als eine Spielart immanenter Modernekritik verstehen. Ihren Ausgangspunkt nehmen sie dabei u.a. in der Diagnose einer mit multiplen Krisen konfrontierten Gegenwart. Es wird dafür argumentiert, dass diese Krisen durch eine zwar immer wieder problematisierte, aber weiterhin ungebrochene Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum verursacht werden. Diese Fixierung wird zum einen durch die verinnerlichte Autorität kapitalistischer Steigerungslogiken wie auch die vermeintliche Autopoiesis des Wirtschaftssystems erhalten. Zum anderen wird Wachstum politisch als Garant für Frieden, Wohlstand, Freiheit und Sicherheit inszeniert und auch kulturell durch ein mit wirtschaftlichem Erfolg gleichgesetztes Fortschrittsnarrativ normalisiert.

Die kritische Analyse der Folgen dieser Wachstumsfixierung – von massiven ökologischen Desynchronisationen über soziale Ungleichheiten bis zu individuellen Entfremdungserfahrungen – ist insgesamt natürlich nicht neu. Neben dem Club of Rome und feministischen Wirtschaftskritiken, die bereits in den 60iger Jahren auf die planetaren Auswirkungen extraktivistischen Wirtschaftens hingewiesen und die ökonomische Fokussierung auf Produktivität hinterfragt haben, ist unter dem Stichwort der Décroissance besonders in Frankreich die sozial-, entwicklungs- und wirtschaftspolitische Orientierung an Wachstum und Steigerung scharf kritisiert worden. Diese Impulse und Analysen werden gegenwärtig von der kritischen Sozialforschung aufgenommen, interdisziplinär weiterentwickelt und aktualisiert. Auch wenn die einzelnen Problemanalysen und Lösungsvorschläge im Detail variieren, lassen sich m.E. drei gemeinsame programmatische Fluchtpunkte gegenwärtiger Ansätze und Zugänge identifizieren: Zum einen teilen spätmoderne Postwachstumskonzepte die Überzeugung, dass die mit fortgesetztem ökonomischen und physischen Wachstum einhergehenden ökologischen Risiken und sozialen Unrechtsstrukturen sowie die daraus potenziell resultierende Erosion zivilisatorischer Grundlagen weder durch ein sogenanntes ,grünes Wachstum‘ kompensiert, noch durch (bio)-technologische Innovationen in ausreichendem Maße behoben werden können. Zweitens verbindet sich in Postwachstums- oder Degrowth-Konzepten die Kritik am gesellschaftlichen und ökologischen Status quo mit Visionen einer alternativen Gesellschaftsformation jenseits konkurrenzkapitalistischer Steigerungslogiken. Mit anderen Worten ist es für Postwachstumskonzepte charakteristisch, analytische Kritik und praktische Handlungsmöglichkeiten im Sinne konkreter oder realer Utopien zu verbinden. Nachhaltige Entwicklung, wirkliche, d.h. vernetzt denkende und Ursachen bekämpfende Transformation basiert demnach darauf, die systemische aber auch lebensweltliche Autorität von Wachstums- und Steigerungsimperativen zu brechen und zugleich alternative, heterodoxe Wirtschaftsansätze zu entwickeln bzw. demokratisch auszubuchstabieren.

Postwachstumskonzepte lassen sich mit Frank Adler gesprochen als einen tentativen Versuch verstehen, eine notwendige, erstrebenswerte und real mögliche gesellschaftliche Alternative – vornehmlich für Gesellschaften des globalen Nordens – zu imaginieren und so menschliche Handlungsfähigkeit zu erhalten. In diesem Sinne verstehen sich Postwachstumsansätze, drittens, als eine praktisch-konkret-utopische Bewegung, d.h. ein aktivistisches Programm, bei dem es – in Erinnerung an Serge Latouch – um eine Dekolonialisierung unserer Vorstellungswelt und eine Entökonomisierung lebensweltlicher Realitäten geht. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich m.E. die Nähe zur Frankfurter Kritischen Theorie, die in unterschiedlichen Zugängen und Akzentuierungen immer wieder die Kolonialisierung des Denkens und Handelns durch systemische Imperative problematisiert hat. Unter den Vorzeichen des steigerungsorientierten Wettbewerbskapitalismus wird die Aneignung und Verfügbarmachung der natürlich-kreatürlichen Um- und Mitwelt dabei als der primäre oder gar einzige rationale Modus der Weltbeziehung verinnerlicht. Weil ein politisch und kulturell gerahmtes und an den Wachstumsgedanken rückgekoppeltes Verständnis von Fortschritt und Sicherheit zu den ,Essentials‘ moderner Gesellschaftsverträge zu gehören scheint, erweisen sich die geforderte Dekolonialisierung der Vorstellungswelt und eine Reimagination alternativer Weltbeziehungen als ein zäher, schwieriger Prozess. Entsprechend, so unterstreichen auch andere Postwachstumsvertreter*innen, kann sich die Veränderung eingelebter Denk- und Handlungsmuster nicht alleine durch theoretische Reflexion einstellen. Vielmehr ist sie auf die Bereitstellung und Eröffnung von gemeinschaftlichen Erfahrungsräumen verwiesen, in denen – z.B. entlang von lokalen Graswurzelbewegungen oder internationalen Initiativen – alternative, mental und physisch von Wachstums- und Steigerungsimperativen entkoppelte Lebensformen erprobt und als wertvoll erfahrbar werden.

Postwachstumsansätze zielen entsprechend auf einen mittel- bzw. langfristigen Umbau der Gesellschaft und können damit durchaus zu einem Schrittmacher für den sozialökologischen Pfadwechsel werden. Insofern sie damit starke normative Thesen vertreten und zudem häufig auf nicht weiter ausgewiesene oder plausibilisierte Vorstellungen von Gerechtigkeit, Gemeinwohl oder Freiheit rekurrieren, erscheint es mir an dieser Stelle jedoch notwendig das Gespräch mit den Geisteswissenschaften zu suchen. Anders formuliert: Es ist die genuine Aufgabe der Philosophie hier genauer hin zu schauen, die implizit in Anspruch genommenen normativen Vorstellungen kritisch anzufragen, zumindest aber zu differenzieren – auch um zu verhindern, dass solche Ansätze abermals abyssal wirken, d.h. ethisch fragwürdige epistemische Vorannahmen transportieren oder unbemerkte Machthierarchien einziehen.

 

wd: Mit den programmatischen Gemeinsamkeiten haben sie bereits einige Punkte angesprochen, die aus Sicht von Postwachstumsvertreter*innen wichtig für einen sozialökologischen Pfadwechsel, für eine nachhaltige Transformation der Gesellschaft sind. Können Sie dies ein wenig konkretisieren?

AW: Natürlich kann ich hier im Einzelnen kein Erfolgsrezept für den sozialökologischen Pfadwechsel benennen. Postwachstumskonzepte machen aber auf Basis einer umfassenden Ursachenanalyse in meinen Augen auf zwei zentrale Dimensionen aufmerksam, die für wirksame Veränderungen notwendig adressiert werden müssen: Zum einen die strukturelle und zum anderen die mentale Dimension. Auf der strukturellen Ebene geht es darum, nach solchen Wirtschaftsformen und -weisen zu suchen, die jenseits von Wachstumsimperativen, Beschleunigungsdiktaten und Steigerungslogiken gesellschaftliche Integrations- und Reproduktionsprozesse stabilisieren. Ein damit einhergehender Umbau müsste also unbedingt gewährleisten, dass die arbeitsteilige Ausdifferenzierung grundsätzlich nicht wieder eingezogen wird und die im sozialstaatlichen Sinne notwendigen Sozialausgaben auch bei niedrigem oder gar ausbleibendem Wachstum finanzierbar blieben. Insofern also zentrale gesellschaftliche und ökonomische Institutionen wie Sozialversicherungen, aber auch der Arbeitsmarkt, der Konsumsektor, freie Unternehmen, das Banken- und Finanzwesen, die öffentlichen Finanzen bis hin zum Steuersystem so umzugestalten wären, dass sie auch ohne wirtschaftliches Wachstum funktionsfähig und resilient bleiben könnten, verdeutlicht, wie umfassend ein solcher Umbau wäre.

Neben strukturellen Reformen, durch die die Autorität von Steigerungsimperativen gebrochen werden könnte, braucht es auf der mentalen Ebene zudem einen umfassenden ,Mindshift‘. Gemeint ist damit, dass die angesprochene Amalgamierung von Wachstum, Wohlstand, Sicherheit und Freiheit aufgelöst werden muss, zumindest nicht als kulturelle, soziale Normalität dargestellt wird. Gelingt es mit anderen Worten erfahrbar zu machen, dass ein gelingendes Leben nicht alleine und auch nicht primär von materieller Ressourcenausstattung abhängt, wird jede sich daran entzündende Steigerungs- und Optimierungslogik ihrer Imperativität beraubt. In Rekurs auf Postwachstumsansätze, wie sie z.B. bei Hartmut Rosa oder Giorgios Kallis aber auch Barbara Muraca und Cornelius Castoriadis ausgearbeitet worden sind, lässt sich dafür argumentieren, dass eine Überwindung des Wachstumsparadigmas letztlich nur nachhaltig gelingen kann, wenn die Vorstellungskraft für ein gutes Leben unabhängig von materiellem Wohlstand reaktiviert wird. Ohne die Ideologieanfälligkeit von tugendethischen Ansätzen zu vernachlässigen, geht es also darum, neue Perspektiven auf Lebensqualität und Glück zu eröffnen, z.B. durch die Wiederentdeckung der Bedeutung sozialer Bande und Beziehungen, durch eine konviviale, suffizientaristische Werkezeug- und Ressourcennutzung, durch die Reintegration kreatürlicher Ko-Existenz und Allyship in lebensweltliche Abläufe oder durch die Rehabilitierung, Pflege und Stärkung von resonant-responsiven Weltbeziehungen.

Wichtig ist dabei zu sehen, dass beide Dimensionen immer wieder aufeinander verweisen, denn die Veränderung struktureller Rahmenordnungen wurzelt in der demokratischen Legitimation und zivilgesellschaftlichen Akzeptanz, wie das Durchhalten alternativer Weltbeziehungen und konvivialer Lebensformen auf kollektive und institutionelle Infrastrukturen wie auch die Kraft des Imaginären angewiesen ist. Für eine wirklich umfassende Transformation von Politik und Gesellschaft, die mittel- und langfristig die ökologischen Lebensgrundlagen schützt, braucht es in a nutshell also eine andere Form des Wirtschaftens, eine andere Form des Denkens – und damit nicht zuletzt eine andere Form der Weltbeziehung. Insofern sie vernetztes Denken fordern und fördern, scheint mir die systematische Auseinandersetzung mit Postwachstumskonzepten für die akademische Disziplin der Umweltphilosophie aber auch den gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs wichtige Impulse zu liefern.

 

wd: Struktur- und Kulturkritik gehen also Hand in Hand. Worin sehen Sie den Beitrag feministisch-philosophischer Perspektiven für die kritische Beschäftigung mit der Wachstumsfixierung?

AW: Kennzeichnend für die feministische Auseinandersetzung mit dem Wachstumsparadigma ist die argumentative Verflechtung von Wachstumskritik mit der Kritik an patriarchalen Strukturen und Machtverhältnissen.

Die indirekte These lautet dabei, dass sowohl mentale als auch strukturelle Wachstumsfixierung aus einer als männlich charakterisierten Verfügbarmachung und Aneignung der Welt resultieren: Zum einen durch eine als ,Petro-Maskulinität‘ bezeichnete habituelle Verknüpfung männlicher Identitätspraktiken und Begehrensstrukturen mit fossilen Energieträgern. Zum anderen durch die institutionell verstetigte, einseitige Fokussierung auf Produktivität bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung der reproduktiven und fürsorgenden Seite von Arbeit. Durch den Fokus auf Produktion und Gewinnmaximierung findet nicht nur eine weitestgehende Ablösung von den regenerativ-reproduktiven Zyklen und Rhythmen der Natur statt – mit bekannten sozialen und ökologischen Folgen. Zudem werden die unbezahlten und verborgenen Care-Leistungen, Fürsorgezeiten und andere meist weiblich assoziierte reproduktiv-rekreationale Tätigkeiten mindestens steuerrechtlich als Arbeit zweiter Klasse wahrgenommen. Solche un- bzw. geringbezahlten Tätigkeiten subventionieren – um die differenzierte Studie von Verena Löffler und Christine Rudolf zu erwähnen – das kapitalistische Wirtschaftssystem jedes Jahr in Höhe von 825 Milliarden Euro.

Antonella Picchio oder auch Adelheid Biesecker haben diese Dynamiken analysiert. Für Picchio zeichnen sich gegenwärtige Wirtschaftssysteme durch eine spezifische Beziehung zwischen der Produktion von Dingen und der gesellschaftlichen Reproduktion von Menschen aus: Produktions- und Reproduktionsbeziehungen gründen dabei auf der Aufteilung von produktiver und reproduktiver Arbeit, der Aufteilung von Einkommen und Ressourcen sowie den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern und Klassen. Für sie ist der Kapitalismus nicht zuletzt auch deshalb ein gefährliches und inhärent destruktives System, weil mit ihm diese Aufteilung verschleiert und so letztlich soziale Verantwortung abgeschoben wird. In care-ökonomischen Ansätzen wird deshalb für eine Refokussierung und Anerkennung der fürsorgenden und versorgenden Dimensionen von wirtschaftlichem Handeln argumentiert. So bekannt diese Forderung einer institutionellen Inklusion von unbezahlter Care-Arbeit bzw. einer Umverteilung dieser Arbeiten unabhängig von Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit ist, so wenig hat sich die Anerkennungsforderung bisher in lebensweltliche Praxis übersetzt.

Das Ausbleiben einer philosophisch-kritischen Auseinandersetzung mit Arbeitskontexten, Produktions- und Reproduktionsverhältnissen erschwert schließlich nicht nur den für einen sozialökologischen Pfadwechsel so zentralen Mindshift, sondern verkennt zugleich – wie Axel Honneth jüngst erläutert hat – das demokratisierende Potenzial von Arbeit. Feministische Ansätze sensibilisieren also nicht nur für die Notwendigkeit wachstumskritische Ansätze mit ethischen Überlegungen zu Verständnis, Funktion und Potenzial von Arbeit zu verbinden, sondern haben zudem schon früh eine konsequente Entkommerzialisierung und Entinstrumentalisierung von Beziehungssphären gefordert. Diese Forderung konvergiert dabei mit der Forderung einer Rehabilitierung von alternativen Weltbeziehungsmodi: Nur wenn die andere Person nicht primär nach Funktions- und Nützlichkeitsaspekten für den eigenen Weltpositionserhalt bewertet, sondern in ihrer Eigenheit, Verletzlichkeit und Einzigartigkeit anerkannt wird, können Freundschaften und Familie – trotz und auch angesichts aller mit ihnen verbundenen Ambivalenzen – tatsächlich zu Wegweisern für ein gutes und gelingendes Leben jenseits von Wachstum und Wohlstand werden. Unter der Prämisse, dass Essentialisierungen und binäre Codes nicht verstetigt werden, erweist sich das Gespräch mit feministischen Ökonomien aber auch kritischen Philosophien als ein unerlässlicher, weil zu Differenzierung auffordernder Bewusstmachungsvorgang. In diesem Rahmen können gegenwärtige Postwachstumskonzepte auf ihre unbemerkten stereotypen Rollenbilder, Silencing-Dynamiken, kolonialen Implikationen oder sozialen Machtstrukturen hin durchsichtig gemacht werden. Nur wenn sie diese Themen problemsensibel adressieren, lässt sich mittelfristig ihr Potenzial aktivieren und für das Gelingen des so dringend benötigten sozialökologischen Pfadwechsels fruchtbar machen.  

Das Gespräch führte Hannah Wendt.