ORCHESTER, ABER ANDERS...
Das Orchester – historisch der Ort zwischen Bühne und Publikum - ist ein beeindruckendes Symbol für die kreative Gesellschaft: ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um zu lernen, zu experimentieren, zu kommunizieren, zu diskutieren, um neue Ideen zu entwickeln, mit dem Ziel der konzertierten Aktion, des gemeinsamen Klanges. Es ist ein komplexer Ort, für dessen Gestaltung es in unseren Augen kein Patentrezept gibt, ein Ort, der sich ständig neu erfindet, neu erfinden muss.
Wir denken viel darüber nach, was Orchester bedeutet, für uns selbst und für die Menschen und wie es sich für die Zukunft fit machen läßt. Traditionell bestimmen hierarchische Strukturen das Bild eines Orchesters. Für uns ist viel mehr möglich, Hauptsache, wir schärfen unsere Wahrnehmung und reflektieren unser Tun. Ein konstruktiver Teil der Gemeinschaft zu sein, das ist unser Wille. Für uns ist Orchester Experimentierfeld gesellschaftlichen, künstlerisch-musikalischen Austauschs. Keine starre Struktur. Ein Miteinander von Ideengebern, Musiker*innen, Dirigent*innen, Komponist*innen – und dem Publikum. Zukunftsweisend. Fragen aufwerfend, um diese künstlerisch aufzugreifen, zu kommentieren, zu verwandeln. Um neue Fragen zu stellen. Um klar zu kommen im Leben. Für den geistig-emotionalen Genuß. Für Toleranz, Nachhaltigkeit, Experiment, Exzellenz.
KEINE EINTAGSFLIEGE
Aber wie geht das? Können wir das überhaupt? Wir sind doch Musiker*innen, wollen Musik machen, dafür haben wir studiert. Auf Tour gehen, auf der Bühne stehen, gefeiert werden, heute hier, morgen dort. Reicht das nicht? Wird nicht immer nett betont, wie wichtig der Handprint von Kulturveranstaltungen in Hinblick auf Transformation, Demokratieverständnis und Wertewandel sei? Dass wir zwar einen ökologischen Fußabdruck produzieren, der positive Einfluss unserer Aktivitäten aber nicht zu unterschätzen sei und wir die Kunst als Sprachrohr nutzen könnten? Juchhee, weiter wie bisher! Aber halt, wollen wir das? All das ist richtig, aber ist es genug? Nein ist unsere Antwort, uns erscheint es nicht ausreichend. Wir haben über unsere Aktivitäten, Ambitionen, Erfahrungen gesprochen und beschlossen: Wir wollen bei uns selbst anfangen, den Selbstversuch wagen, unsere Abläufe neu strukturieren und unseren ökologischen Footprint verringern. Sprachrohr sein allein genügt nicht, auch wir wollen uns transformieren.
Mit unserem Festival MENSCHLICHKEIT wollen wir einen Standard setzen in der Festivallandschaft der klassischen Musik und uns mit Freude den neuen Herausforderungen stellen. Denn all dieses muss keine Eintagsfliege sein: Marketing, Werbeträger, Transport, Tourneen, Catering. Darüber denken wir nach. Wo sind die Mängel, wo erkennen wir Chancen? Wie können wir mehr Nachhaltigkeit, Aufmerksamkeit und soziales Engagement in unser direktes Umfeld geben? Um nicht nur anonym auf der Bühne zu stehen und am nächsten Tag zum nächsten Tourneeort zu reisen. Ein zentraler Aspekt des Festivals ist darum die Förderung einer Gemeinschaft, die sich aktiv für eine bessere Zukunft einsetzt. Der Fokus liegt dabei auf klimafreundlichen und nachhaltigen Veranstaltungsstrukturen, um zu zeigen, dass Veränderung nicht nur möglich, sondern auch umsetzbar ist. Dafür braucht es ein radikales Umdenken in Bezug auf unsere Abläufe und eine Neudefinition unserer Rolle als Künstler*innen in der Gesellschaft. Es ist mühsam und macht mitunter Angst, die eigene Comfort Zone zu verlassen und neue Räume zu betreten, aber es hilft, miteinander zu sprechen und zu erkennen, dass viele Menschen bewusst und mit Verantwortung handeln wollen. Das macht uns Mut!
KOMPONIEREN ALS GRÜNE MISSION?
„Wir müssen mit unserer Kunst den Fragen der Zeit ins Auge blicken – alles andere ist Zeitverschwendung.“ sagt Thorsten Encke, Komponist, Dirigent und Leiter der musica assoluta.
„Ein Bewusstsein für die Phänomene des Lebens zu schaffen ist für mich eine entscheidende Funktion der Kunst in der heutigen Zeit. Ich bin überhaupt kein Moral-Apostel, möchte weder bevormunden noch bevormundet werden, arbeite am liebsten allein und in Abgeschiedenheit und weiß um die schöne "Zwecklosigkeit" von Kunst. Es geht um geistige Dinge, um Botschaften, die außerhalb unserer selbst zu liegen scheinen, um eine höhere Form von Wahrheit. Und dennoch: wir Menschen zerstören mit unserer Art zu leben unseren Planeten, uns selbst und die ganze Vielfalt des Lebens auf der Erde. Um diese sehr konkrete Wahrheit kommt niemand mehr herum, auch wir Musikerinnen und Musiker nicht. Es ist eine Dimension, die in dieser Größe nie dagewesen ist. Und deswegen verändert sich unweigerlich auch unsere Rolle als Künstler - ob wir wollen oder nicht. Das Weiter-wie-gehabt manifestiert letztlich die Mechanismen, die unseren Planeten an den Rand des Abgrunds geführt haben. Musik bringt Schönheit, Gemeinschaft, Frieden und viel Gutes in die Welt und lässt uns ein höheres Geheimnis des Lebens erahnen - sie hat auch die Kraft, uns aufzurütteln. Nutzen wir sie! Dieses ist mehr als eine rein künstlerisch-humanistische Botschaft. Es ist das solidarische Eintreten für alle Formen des Lebens. Ich möchte Menschen zusammenbringen, die diesen Weg gemeinsam gehen und den Mut haben, unbequem zu sein. Wir sind Musiker – im Grunde müssten wir alle auch Greenpeace- und Human Rights Watch Aktivisten sein.“
SOUND OF NATURE – NICHT ALLES WAS WIR NICHT KENNEN IST NICHT SCHÖN
Mit Beginn der ‚UN-Decade of Ocean Science‘ (2021-2030) widmete sich Thorsten Encke einem Forschungsvorhaben im Bereich der Meeresakustik, um das eigene Bewusstsein für die Welt der Unterwassergeräusche zu schärfen und die Erfahrungen mit den Menschen musikalisch-künstlerisch zu teilen: „Wichtig war es mir, den eigenen Horizont zu erweitern, das Unbekannte kennenzulernen und an die Oberfläche zu bringen. Denn ist es nicht verrückt, dass wir über den Mond mehr wissen als über den Ozean? Wie klingt das Meer? Seit jeher zieht die Faszination dieser Naturgewalt viele Komponist*innen in ihren Bann. Aber wie hört sich die Welt an für die Lebewesen, die ihre gesamte Existenz unter der Wasseroberfläche der Ozeane verbringen, und wie nutzen sie diese einzigartige Akustik zum Überleben?“, so Thorsten Encke. Entscheidende Impulse hierzu erhielt er während seines Aufenthaltes als Composer-in-Residence am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst durch die Meeresbiologin Prof. Dr. Stephanie Plön von der Stellenbosch University South Africa. In ‚It is noisy in the ocean‘ werden Tierlaute zum Material für eine innovative Komposition, in der die Musik beständig zwischen lebendigen Geräuschfeldern und flirrenden Klangflächen pulsiert. Da knarzt, klopft, knallt und pfeift es. Es sind ungewohnte Klänge, für die es kaum Hörerfahrungen gibt. Und sie entfalten ihre ganz eigene Poesie. „Die Musik von Encke hilft uns, die Schönheit der Natur im Klang wiederzuentdecken. Das Hören der Töne der Tiere und der Musik vermittelt auf unmittelbare Weise die sinnliche Erkenntnis vom Eigenwert dieser Natur. Mit der Musik wird ein Wahrnehmen der Töne ermöglicht, das diese nicht festlegt, sondern für ihre Mehrdeutigkeiten öffnet. Dadurch schafft der Komponist einen Zugang zum Meer, der es in seiner begrifflich unerreichbaren Komplexität zur Anschauung bringt.“[1]
Mit der Komposition war der künstlerische Prozess jedoch nicht abgeschlossen. In Zusammenarbeit mit dem Team von musica assoluta und der Videokünstlerin cylixe entstand die Dramaturgie für ein Kulturerlebnis, das weit über ein ,normales‘ Konzertprogramm hinausgeht - mit Musik, originalen Klängen aus den Tiefen des Meers, Visuals und Wissensvermittlung. Grenzen zwischen Forschung und Kunst wurden aufgebrochen – das Projekt ,The ocean is a noisy place‘ wurde zu einem brandaktuellen Sprachrohr einer bedrohten Artenvielfalt. Denn der Ozean ist voller Geräusche. Unterwasserschall wird durch eine Vielzahl natürlicher Quellen wie Wellen, Regen und Wildtiere erzeugt. Unterwassergeräusche ermöglichen es den Lebewesen im Meer, Informationen auszutauschen und über große Entfernungen zu kommunizieren. Die komplexen akustischen Phänomene sind uns immer noch ein Rätsel. Aber die Forschung geht in großen Schritten voran. Zunehmend lernen wir, dass Meeresbewohner akustische Wesen sind und auf ein intaktes akustisches Übertragungssystem angewiesen sind. Unterwasserschall wird auch von künstlichen Quellen wie Schiffen, Sonaren, Sprengungen oder Windparks erzeugt. In den letzten zehn Jahren hat sich der Menschen-gemachte Lärm in den Ozeanen mehr als verdoppelt. Die Wissenschaft steht erst am Anfang eines Prozesses, um zu verstehen, inwieweit diese Geräusche die natürliche Klanglandschaft des Ozeans übertönen und das Leben im Meer bedrohen.
,The ocean is a noisy place‘ erzählt von der faszinierenden, kraftvollen, aber auch gefährdeten akustischen Welt des Ozeans. Bewusst ist das Orchester in diesem Projekt über die Perspektive des Menschen hinausgegangen und hat versucht, den Lebewesen im Meer eine Stimme zu geben. Denn wenn sie gehört wird, besteht die Hoffnung, dass wir Menschen die Dinge anders sehen, anders anpacken. Wissen hilft, die ,Ehrfurcht vor dem Leben‘ (Albert Schweitzer) zu wecken.
Die sinnliche Erfahrung trägt ihr Übriges dazu bei und verstärkt den empathischen Impuls.
Hier sehen wir unsere wichtige Aufgabe als Orchester und eine große Chance in unserem neuen Spielfeld der künstlerischen Bearbeitung gesellschaftspolitischer und ökologischer Thematiken.
Das klingt trocken, ist es aber gar nicht. Es inspiriert uns, neue künstlerische Wege zu betreten. Jeder kleine Schritt, der uns ein Gefühl für das große Ganze zu vermitteln vermag, der uns innehalten und nachdenken lässt ist wertvoll. Die Musik vermag dieses: Gefühl und Gedanken. Deshalb lieben wir sie. Und deswegen erfinden wir uns ständig neu. Denn ein Stehenbleiben gibt es nicht in der Kunst.
[1] M. Seel 2017, 50. Zitiert nach J. Mannemann 2023, 123.